CX
Das dritte Leben.
Nachdem allerorten auf Effizienz und Kostensenkung geachtet wird, kann sich auch das Santanazentrum Braunschweig nicht mehr leisten, überall mit den so gut ausgestatteten Fünfzylindern vorzufahren. Auch um die Bodenhaftung nicht zu verlieren, ist es nicht verkehrt, wenn man von Zeit zu Zeit ohne ZV, Servolenkung, elektrische Helferlein und Veloursitze unterwegs ist. Hier ist er also - unser offizieller Dienstwagen.

Auf den ersten Blick ein einfaches "Kassenmodell". Doch dies ist die Geschichte eines ungewöhnlichen Santana...

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Guten Tag, darf ich mich kurz vorstellen?

Ich bin ein Santana, ein Santana CX, um genau zu sein. In weiß. Ein „kleiner“ Santana, ohne viel Chrom. Manche Leute nennen so was wohl auch „einfach“ oder „Basis“.

Das Licht der Welt erblickte ich im September 1984 in Emden. Kaum entwickelte ich auf dem Montageband ein Bewusstsein, da stellte ich fest, dass ich einer der letzten meiner Art sein würde, denn auf dem Nachbarband sah ich schon Karosserien wie meine, aber mit ganz dicken Stoßstangen und dem Schriftzug "Passat" vorbeiziehen. "Vorserienmodelle" nannten die sich hochnäsig, viele gut ausgestattet mit Fünfzylindern und viel Plüsch und Chrom... - einige mit 90PS hatten sogar schon G-Kat.

Kalt war es draußen! Seenebel hüllte Emden ein, als ich auf den Autotransporter gefahren wurde. Da kamen mir meine vielen Leuchten gerade recht...

Meine Bestellung musste wohl doch etwas Besonderes gewesen sein, denn auf meinem Typzettel prangten M 571 (Nebelschlußleuchte) und M 659 (Nebelscheinwerfer). Die Werker am Band schüttelten jedenfalls die Köpfe, auch über die Türablagen und den zusätzlichen rechten Außenspiegel – „ein Basis-Santana mit solchen Extras, unglaublich... “

Nachdem wir mit dem Transporter die niedersächsische Tiefebene durchquert und sich viele meiner mitreisenden Passat und Audi 80 schon ins Leben verabschiedet hatten, wurde ich in der Stadt Hameln an der Weser abgeladen - Sie kennen doch die Geschichte von dem Rattenfänger?

Hier lernte ich beim Autohaus „Hild & Co.“ meine Besitzerin kennen! Sie hieß Auguste und war nicht mehr die jüngste - immerhin war sie doch schon 1916 geboren. Vor einiger Zeit war sie in Rente gegangen, und nun hatte sie sich ein neues Auto bestellt.
Auguste hatte es gerne ruhig, und so verzichtete sie auf Radio und Antenne. Ich habe in meinem ganzen Leben keine Musik aus meinem Inneren vernommen, neben meinem 75PS-Vierzylinder war da nur ab und zu Augustes Singen...
Aufs Schalten hatte Auguste wohl auch keine Lust, wie so viele Santanas habe auch ich ein Automatic-Getriebe. Und sie war ziemlich klein, weswegen mein Fahrersitz auch höhenverstellbar ist.

Bevor ich nun aber mit Auguste auf die Straße konnte, ließ sie noch mehr Extras montieren. Damit mir beim Türöffnen nicht die Seite verkratzte, bekam ich noch die dicken Stoßprofilleisten, die ich von meinen besser ausgestatteten Santana-Brüdern kannte, sowie die große Mittelkonsole aus den GX-Modellen. In diese wurde noch durch einen VW-Meister ein rundes, elektrisches VDO-Zusatzthermometer montiert, mit einer eigens angefertigten Blende, die er aus meiner alten, kleinen Mittelkonsole schnitt.

Dann begann der Ernst des Lebens! Auguste ließ mich in einer feinen Garage wohnen, und meist am Wochenende durfte

ich raus, um sie zum Einkaufen, in die Umgebung oder am Sonntag mit ihren Freundinnen zum Kaffeetrinken zum Beispiel nach Bad Pyrmont zu bringen. Das waren Touren mit diesen ganzen alten Damen an Bord! Wie gut, dass ich als Santana sowieso eine gute Akzeptanz von älteren Leuten mit aufs Band gelegt bekam; manch Syncro wäre wohl ausgeflippt...

Auf einer dieser Fahrten passierte es dann! In Horn-Bad-Meinberg auf einer weiteren Kaffeefahrt war Auguste unachtsam, und im Oktober 1986, nach gerade einmal zwei Jahren auf der Straße, mein Kilometerzähler zeigte erst 32471 km, rammte mich ein unhöflicher Verkehrsteilnehmer derart heftig, dass ich vollkommen verzogen dastand. (Was genau passierte, weiß ich nicht mehr - das habe ich wohl im Schock verdrängt.) Auguste war glücklicherweise nichts passiert, aber ich war reif für den Schrottplatz. Ich wurde abgeschleppt und stand in Hameln herum, wo ich auch ausgeliefert worden war. „Schrott - Reparatur lohnt nicht“, hörte ich die Mechaniker sagen, die ab und zu um mich herumliefen. Auch Auguste sah ich, sie sprach mit einem der Verkäufer, hatte Prospekte in der Hand und wollte wieder einen echten Santana haben. Sie war enttäuscht, als sie hörte, dass es nur noch Passat Stufenheck geben sollte, aber keine Santanas mehr... - lange stand sie vor mir und blickte mich traurig an, dann ging sie davon...

Dann kam ein großes Paket mit dem Ersatzteiletransport. Ein Paket in einer Größe, wie es noch nie zuvor aus Kassel gekommen war! Ich sah es genau: Eine nagelneue Santana-Rohkarosserie! Naja, eigentlich Passat Stufenheck - die Bohrungen für die neuen, großen Stoßstangen und auch der geänderte hintere Abschlepphaken waren deutlich zu sehen. Egal! Ich konnte es kaum glauben - Auguste hatte sich entschlossen, mir ein zweites Leben zu schenken! „Nicht ohne meinen Santana“ hatte sich die Gute gedacht...

In der Folge waren zwei Mechaniker über eine Woche damit beschäftigt (die haben manchmal geflucht!), meine Innereien in die neue Karosserie zu verpflanzen - von meiner alten Hülle wurden nur die Motorhaube, zwei Türen und der Kofferraumdeckel übernommen, alles andere war zerstört.

Irgendwann wachte ich von harten Hammerschlägen auf und fühlte mich - neugeboren! Gerade wurde mir meine Identifikation eingeschlagen, und seitdem steht in meinem Brief „Karosserie ersetzt - Fahrgestellnummer von Hand nachgeschlagen“.

Nachdem ich ja optisch mit meinem makellos weißen Kleid immer als perfekter Saubermann dastand, wollte Auguste mich auch technisch aus der Masse der „Stinker“ herausheben und ließ mir bereits im Dezember 1986 einen U-Kat einbauen...

Was war Auguste froh, daß sie mich wiederhatte! Glückliche Jahre mit ihr und den Kaffeetanten folgten - nur nach Bad Meinberg fuhr sie nicht mehr so gerne. Ich aber auch nicht.
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Die Jahre gingen ins Land, Auguste und ich wurden älter. Sie viel stärker als ich - immer seltener wurde ich Ende der neunziger Jahre aus der Garage geholt, und immer weniger meiner Verwandten sah ich auf diesen Ausflügen. Ein Wort machte unter den wenigen die Runde - „Export“, und es erinnerte mich aufs Unangenehmste an die Geschichte von dem Rattenfänger...

Irgendwann kam Auguste nicht mehr in die Garage. Statt dessen waren da ihre Verwandten, die von „Pflegeheim“ sprachen, und zwei Leute mit einem Abschleppwagen. „Autoverwertung“ stand da drauf! Mir grauste, als sie mich wehrlos auf den Transporter fuhren - ich war doch topfit! Ein Jahr TÜV, wirklich rostfrei und technisch völlig in Ordnung... - ich sollte Auguste, die sich immer so rührend um meine Wartung gesorgt hatte, nie mehr wiedersehen.

Wieder machte ich mich auf das Schlimmste gefasst - was würde mit mir passieren? Wieder das Wort “Export“, als ich auf dem Vorhof zur Hölle abgeladen wurde: In der Verbrauchtwagenecke vor dem Schrottplatz in Schloß Holte-Stukenbrock... - was würde mir bevorstehen? Der Weg nach Litauen oder nach Afrika, wo ich nach ein paar Jahren nicht eben liebevollen Gebrauchs an irgendeinem Schlagloch verrecken würde? Oder gar Nichtbeachtung und in ein paar Monaten Endstation hinter dem Zaun auf den großen Auto-Bergen, wo ich alle enden sah, die das Tor passierten?

Irgendwann kam einer und machte ein Foto von mir...

Und dann kamen kurz darauf diese jungen Männer! Die kannten mich wohl von dem Foto... – sie sahen mich genau an („Oh Scheiße, schon wieder einer, den wir kaufen müssen...“ - wie kann man nur solche Worte in den Mund nehmen!), dann fuhren sie mich ein paar Meter auf dem Hof, besprachen etwas und verschwanden wieder. Tief verunsichert ließen sie mich zurück....

Drei Tage später waren sie wieder da! Sie hatten Kurzzeitkennzeichen aus Bielefeld mitgebracht (obwohl doch Bielefeld „eigentlich“ gar nicht zuständig war, wie sie auf dem Amt erfahren hatten), die schraubten sie mir an, ließen sich noch eine Batterie geben (leider nicht meine alte, diese hier war bald kaputt), und sie suchten sich noch extra meine alten, verbogenen Hamelner Kennzeichen wieder aus dem Blechschrott!

Die beiden fuhren mich dann nach Osten, wir kamen an Schildern „Hameln“ und „Horn-Bad-Meinberg“ vorbei - ich fühlte mich schon wieder fast wie zuhause! Was mochten die mit mir vorhaben? Die Fahrt endete schließlich südlich von meiner langjährigen Heimat Hameln, in einer Gegend, die oft im Zusammenhang mit Baron Münchhausen genannt wird. Ein Tor wurde aufgezogen, und ich erblickte - die größte Zahl Santanas, die ich seit 1984 in Emden gesehen hatte! Freudig begrüßte ich sie und fragte mich und die anderen, was mir denn hier bevorstände...

Mir wurde dann erklärt, dass Klaus und Tilman - so die Namen der beiden jungen Männer - das „Santanazentrum Braunschweig“ seien und es sich zur Aufgabe gemacht hätten, Santanas zu pflegen und zu heilen.
Kaum konnte ich es glauben, als mir ein alter Santana GX5S mit Werks-Topausstattung erzählte, nur ab und zu würden sie bei gutem Wetter herausgeholt und bewegt, Matsch, Schnee und Salz hätten sie schon lange nicht mehr ertragen müssen... - was für ein Altersheim!

Manchmal ist es mir ja ein wenig langweilig mit diesen ganzen hochkarätigen GX-Typen, aber seit dem Sommer ist da noch ein rotes Passat-C-Modell, mit dem ich mich auch ganz gut verstehe. Basis verbindet eben.

Inzwischen bin ich gründlich gereinigt, poliert und habe mich gut mit den anderen angefreundet. Am Wochenende öffnet sich manchmal das Tor, und einer von uns (jedes Mal fragen wir uns: wer mag es wohl sein?) wird herausgeholt, bekommt die roten Nummernschilder angeschraubt und darf auf Fahrt gehen.

Einmal ging es zu einem Youngtimertreffen nach Detmold, da waren noch viel mehr alte Knacker wie ich... - und wenn man dann auf so einer Gelegenheit vom Fahrer eines uralten Opel Kadett den Daumen hochgestreckt bekommt, dann fühlt man sich schon geschmeichelt. Was würde wohl Auguste sagen...

- aufgezeichnet von Klaus Meier und Tilman Grund im Herbst 2004-

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